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Frau mit Erkältung

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein zentrales Element des deutschen Sozialstaats. Ihre Wurzeln reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück, als unter der Regierung von Reichskanzler Otto von Bismarck erste Schritte zur sozialen Absicherung unternommen wurden. Im Jahr 1883 wurde die gesetzliche Krankenversicherung eingeführt. Mit ihr erhielten Arbeitnehmer erstmals einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung im Krankheitsfall, allerdings nicht durch den Arbeitgeber selbst, sondern durch die Krankenkassen. Die Idee war, sozialen Unfrieden zu verhindern und der Arbeiterbewegung entgegenzuwirken.

Zwischenkriegszeit und Weimarer Republik

Die Zeit der Weimarer Republik war geprägt von sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das soziale Sicherungssystem weiterentwickelt, wenn auch unter großen finanziellen Belastungen. Die Krankenversicherung blieb bestehen, wurde allerdings in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt. Das Krankengeld spielte weiterhin eine zentrale Rolle, aber von einer gesetzlichen Verpflichtung der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung war noch keine Rede.


Die wirtschaftliche Instabilität, Massenarbeitslosigkeit und Inflation führten dazu, dass viele Menschen trotz gesetzlicher Versicherungen kaum abgesichert waren. Zwar gab es in einigen Betrieben oder durch Tarifverträge Regelungen zur freiwilligen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber, doch diese waren keineswegs flächendeckend. Der Gedanke, dass ein Arbeitnehmer bei Krankheit seinen Lohn für eine gewisse Zeit behalten sollte, war zwar in der öffentlichen Diskussion präsent, konnte sich aber noch nicht gesetzlich durchsetzen.

Die Rolle der Lohnfortzahlung in der Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wiederaufbau des Sozialversicherungssystems in Westdeutschland zu einem wichtigen Bestandteil der gesellschaftlichen Stabilisierung. Die Krankenversicherung wurde erneuert, das Krankengeld blieb zentrale Leistung für den Krankheitsfall. Erst in den 1950er Jahren begann die Diskussion um eine gesetzlich geregelte Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber erneut an Fahrt aufzunehmen. Arbeitnehmerverbände und Gewerkschaften forderten eine stärkere Verpflichtung der Arbeitgeber, die Beschäftigten bei Krankheit finanziell abzusichern.


In dieser Phase entstanden zunehmend tarifvertragliche Vereinbarungen, die eine Lohnfortzahlung vorsahen. Doch diese Regelungen galten meist nur für bestimmte Branchen oder große Unternehmen. Der gesetzliche Anspruch auf Lohnfortzahlung fehlte weiterhin, sodass die Sicherung im Krankheitsfall stark von der jeweiligen Branche oder der Tarifbindung abhing. Die sozialen Unterschiede bei Krankheit waren dadurch beträchtlich. Die Forderung nach einer einheitlichen Regelung wurde immer lauter, insbesondere von Seiten der Gewerkschaften, die in der Lohnfortzahlung eine Frage der sozialen Gerechtigkeit sahen.

Das Lohnfortzahlungsgesetz von 1970

Ein Meilenstein in der Geschichte der Lohnfortzahlung in Deutschland war die Einführung des Lohnfortzahlungsgesetzes im Jahr 1970. Dieses Gesetz regelte erstmals verbindlich, dass Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf volle Lohnfortzahlung durch ihren Arbeitgeber für die Dauer von sechs Wochen haben. Die Grundlage bildete ein Kompromiss zwischen den Sozialpartnern und der damaligen sozialliberalen Bundesregierung. Damit wurde ein einheitlicher sozialer Mindeststandard geschaffen, der unabhängig von der Branche oder Tarifbindung galt.


Die Regelung betraf zunächst nur Arbeiter, da Angestellte häufig bereits durch ihre Verträge abgesichert waren. Doch schon 1974 wurde die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten gesetzlich festgeschrieben. Seitdem gilt für alle abhängig Beschäftigten, dass sie bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit für sechs Wochen weiterhin ihren Lohn oder ihr Gehalt in voller Höhe erhalten. Diese Regelung wurde von vielen Seiten als bedeutender Fortschritt im Arbeitsrecht bewertet. Sie stärkte nicht nur die soziale Absicherung der Beschäftigten, sondern auch das Vertrauen in den Sozialstaat und die Rolle der Arbeitgeber.

Reformen und Diskussionen seit den 1990er Jahren

In den 1990er Jahren kam es zu einer intensiven politischen Debatte über die Kosten und den Umfang der Lohnfortzahlung. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezessionen und steigender Lohnnebenkosten versuchten verschiedene Bundesregierungen, die Arbeitgeber zu entlasten. Eine der umstrittensten Maßnahmen war die Kürzung des Entgelts auf 80 Prozent für bestimmte Gruppen im Jahr 1996 unter der Regierung von Helmut Kohl. Diese Regelung stieß auf erheblichen Widerstand, insbesondere von Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretern.


Bereits 1999 wurde diese Kürzung unter der rot-grünen Bundesregierung wieder rückgängig gemacht, sodass erneut die volle Lohnfortzahlung für sechs Wochen gesetzlich vorgeschrieben wurde. Trotz zwischenzeitlicher Diskussionen über mögliche Selbstbeteiligungen oder Kürzungen blieb die Lohnfortzahlung seither weitgehend unangetastet. Sie gilt heute als fester Bestandteil des deutschen Arbeitsrechts und als Ausdruck der sozialen Verantwortung der Arbeitgeber.


Gleichzeitig zeigt sich, dass die Lohnfortzahlung nicht nur aus sozialpolitischer Sicht relevant ist, sondern auch ökonomische Auswirkungen hat. Studien belegen, dass ein sicherer Lohn bei Krankheit die Mitarbeitermotivation und Betriebstreue erhöht. Zudem wird vermieden, dass Beschäftigte krank zur Arbeit erscheinen, was langfristig höhere Kosten verursachen könnte.

Bedeutung in der Gegenwart und Ausblick

Heute ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Deutschland ein selbstverständlicher Bestandteil der Arbeitswelt. Sie betrifft Millionen Arbeitnehmer in allen Branchen, ob im produzierenden Gewerbe, im öffentlichen Dienst oder im Dienstleistungssektor. Auch in kleineren Unternehmen ist die gesetzliche Regelung fest verankert, wobei es für kleine Betriebe Ausgleichsmöglichkeiten wie das sogenannte U1-Verfahren gibt. Diese Umlage unterstützt Unternehmen bei den Kosten der Lohnfortzahlung, um wirtschaftliche Belastungen zu minimieren.


Die Bedeutung der Lohnfortzahlung wurde besonders in Krisenzeiten wie während der Corona-Pandemie deutlich. Die Sicherheit, im Krankheitsfall nicht auf den Lohn verzichten zu müssen, stärkte das Vertrauen in das Gesundheitssystem und in die Arbeitsverhältnisse. Auch in Zukunft wird die Lohnfortzahlung ein zentraler Bestandteil der sozialen Sicherung bleiben. Mit dem demografischen Wandel, neuen Beschäftigungsformen und dem zunehmenden Trend zu flexiblen Arbeitsmodellen könnte es jedoch erneut zu politischen Diskussionen kommen.


Dabei wird es entscheidend sein, das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Tragfähigkeit für die Arbeitgeber und sozialer Absicherung für die Beschäftigten zu wahren. Die historische Entwicklung der Lohnfortzahlung zeigt, dass der deutsche Sozialstaat in der Lage ist, diesen Ausgleich immer wieder neu zu gestalten – im Sinne von Fairness, Sicherheit und Stabilität am Arbeitsplatz.

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

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